Neuartige Pneus sollen die Umwelt nicht belasten und ohne Luft funktionieren

Auf dem Display des Autos leuchtet gelb: «Zu wenig Druckluft im Pneu rechts hinten». Die Reifendrucksensoren schlagen Alarm. Denn ein zu geringer Luftdruck in den Pneus kann Unfälle verursachen, erhöht den Reifenverschleiss und den Treibstoffverbrauch. «Zu wenig Luft im Reifen ist eine der häufigsten Pannenursachen in der Schweiz», sagt Reto Blättler, Reifenexperte beim TCS. Auch zu hart gepumpte Pneus haben ihre Nachteile. Die Fahrt damit ist holpriger und somit unangenehmer. Zudem ändert sich das Fahrverhalten des Fahrzeugs.

Mit dem Gummi in den Reifen hängen noch andere Probleme zusammen. Zum einen das Recycling. Ausrangierte Pneus werden geschreddert und deponiert oder verbrannt. Nur ein Teil wird wiederverwendet. Zudem werden viele der jährlich 200 Millionen neu montierten Pneus ausgetauscht, obwohl sie nur leicht beschädigt sind und eigentlich noch nicht am Ende ihres Lebenszyklus stehen. Zum anderen braucht es für die Pneuherstellung Naturkautschuk. 75 Prozent des Naturkautschuks werden für die Reifenherstellung verwendet, doch ein Pilz vernichtet zurzeit in Brasilien, dem Ursprungsland des Kautschuks, ganze Plantagen. Wird dieser Pilz auch in asiatische Kautschukländer verschleppt, könnte es zu einer Versorgungskrise kommen.

Den Pneus wird die Luft abgelassen

Doch Abhilfe ist in Sicht. Die grossen Reifenhersteller forschen emsig an Reifen, die ohne Luftdruck auskommen. Reto Blättler hat sich diese Visionen an der Automobilausstellung IAA in Frankfurt angesehen. Aufgefallen sind ihm der visionäre Reifen «Vision Concept» von Michelin, der aus dem 3-D-Drucker kommt, sowie der seriennahe, luftlose Konzeptreifen Uptis, den Michelin zusammen mit General Motors entwickelt hat. In Frankfurt wird Uptis als Weltpremiere gezeigt, verkauft wird er ab 2024.

Die Rad-Reifen-Kombination besteht aus einer fest verbundenen Einheit aus Aluminium, Kompositmaterialien und Gummilauffläche. Die leichte Aluminiumfelge ist über flexible Kunststoffspeichen untrennbar mit der profilierten Lauffläche des Uptis verbunden. Die widerstandsfähigen Speichen aus Polyesterharz und Glasfaser tragen das Auto und wirken schwingungsdämpfend. Ein Platten ist mit diesem Reifen nicht mehr möglich. Neben der Pannensicherheit versprechen die Michelin-Ingenieure auch, dass der Reifen nicht gewartet werden muss und seine Materialien wiederverwendbar sind.

Anpassungsfähiger Kugelreifen für autonome Autos

Ebenfalls für sehr interessant hält Blättler die Vision von Goodyear, den Kugelreifen «Eagle Urban 360». «Dieser kann sich selbst an die jeweiligen Strassenverhältnisse anpassen und sein Profil verändern», sagt der TCS-Reifenexperte. Dank einer Magnetschwebebahntechnik kann sich ein Fahrzeug mit Kugelreifen flexibel durch den Verkehr schlängeln, auch seitwärts und diagonal. Wegen der schwebenden Technik kommt das Fahrzeug ohne direkte mechanische Verbindung zum Reifen aus.

Das Reifenprofil aus elastischen Polymeren wird per 3D-Druck erzeugt und imitiert die bionischen Strukturen der menschlichen Haut. Ein schaumartiges Material darunter ermöglicht dem Pneu, sich flexibel Fahrbahnoberflächen und Witterungsbedingungen anzupassen. Mit Sensornetzen auf dem Pneu wird die Geschwindigkeit an die Strassenverhältnisse angepasst.

«All diese Visionen der Reifenhersteller zielen Richtung autonomes Fahren», sagt Blättler. Die mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Pneus stellen eine Verbindung der Strasse zum Bordcomputer des Autos her. Durch die Sensoren auf und im Pneu können Daten in Echtzeit an andere Fahrzeuge oder an eine Leitzentrale für den autonomen Verkehr weitergeleitet werden. Von Marktreife sei diese Vision «Eagle 360 Urban» aber noch weit weg, sagt Blättler.

Noch um einiges verrückter ist eine andere Vision von Goodyear. Der luftlose Reifen «Aero» ist für Flugtaxis konstruiert worden – für autonome, fliegende Autos. Er funktioniert zum einen wie ein ganz normaler Strassenreifen. Zum anderen kann er wie ein Rotor für Auftrieb nach oben sorgen und das Auto fliegen lassen. Auch der «Aero» nutzt Magnettechnik für einen reibungslosen Antrieb sowie faseroptische Sensoren, um die Strassenoberfläche, den Reifenabrieb und die Struktur des Reifens zu überwachen. Und dank der künstlichen Intelligenz können «Aero»-Autos mit anderen Fahrzeugen und der Verkehrsinfrastruktur kommunizieren.

Auch der Natur wird in der Reifenentwicklung einiges abgeschaut. Der Goodyear-Reifen «Oxygene» hat in seinem Innern Moos. Die Pflanze absorbiert im Reifen Wasser von der Strasse, macht damit Fotosynthese, und der Pneu scheidet Sauerstoff aus. Continental forscht mit dem Fraunhofer-Institut am Ersatz von Naturkautschuk, für dessen Anbau in Asien Regenwälder gerodet werden. Als Alternative erforscht wird Löwenzahn, aus dem Latex – Kautschuk in flüssiger Form – gewonnen wird.

Ein Tesla macht Lärm wie ein Ferrari

Mit dem Aufkommen der Elektroautos ist die Lärm- und Rollwiderstandsminderung bei den Pneus ein wichtiges Forschungsgebiet. Denn ausgerechnet die an sich leisen E-Mobile machen mit ihren Pneus viel Lärm. «E-Fahrzeuge haben ein grosses Drehmoment beim Start», sagt Blättler. Ein Tesla beschleunigt wie ein Ferrari. Dementsprechend braucht es für ein solch kräftiges E-Autos auch dieselben breiten Reifen wie für den italienischen Sportwagen, um die Kräfte beim Ampelstart auf die Strasse zu bringen. E-Mobile brauchen also in Zukunft dünnere und damit leisere Reifen.

Die Pneuforschung kümmert sich nicht nur um die zukünftige Bereifung von autonomen und elektrischen Autos. Im Schnitt alle drei Jahre gebe es bei den Reifenherstellern neue Entwicklungsschritte mit verbesserten Profilen, neuen Mischungen, neuen Sensoren, welche den Reifen immer besser machten, sagt Reto Blättler vom TCS.

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